Bindung braucht ein Gegenüber

Stellen wir uns ein neugeborenes Baby vor, das zum ersten Mal in seinem Leben selbstständig Luft holt,  zu schreien anfängt und schließlich erschöpft von den Strapazen der Geburt instinktiv nach der Mutterbrust sucht. Gerade erst angekommen in unserer turbulenten, unübersichtlichen Welt braucht es den Schutz, die Versorgung und Orientierung durch einen verständnisvollen und zutiefst vertrauenswürdigen Menschen, seine Mutter. Am Anfang eines solchen Menschenlebens ist uns dessen Bedürftigkeit durchaus nachvollziehbar und bewusst. Doch oft schon nach einem Jahr erwarten wir, dass das Kleine ersatzweise auch mit weiteren Bezugspersonen zu Recht kommt und auf die unmittelbare Gegenwart seiner Mama verzichten kann. Was für ein Trugschluss: das Durchtrennen der Nabelschnur hat Mutter und Kind nur äußerlich entzweit, innerlich entsteht jetzt ein neues, sensibles Band zwischen ihnen: die Bindung.

Die Bedeutung der Bindung für das Kind

Für das Kleine ist diese Bindung absolut überlebensnotwendig, denn in der Beziehung zu seiner Bindungsperson lernt es, zu vertrauen, angenommen, geliebt und wertvoll zu sein, versorgt und verstanden zu werden. Es erfährt, dass jemand auf seine Bedürfnisse Rücksicht nimmt und gewillt ist, sein Schreien und Sprechen verstehen zu wollen. Diese Erfahrungen stärken seinen Selbstwert und machen Mut, zum Lernen und erforschenden Ausprobieren. Sie hemmen Ängste wie etwa verlassen zu werden oder allein zu sein und helfen ihm, in heiklen Situationen schneller wieder zu entspannen. Die Gegenwart seiner vertrauten Bindungsperson schafft eine Atmosphäre von Freiheit und Unbeschwertheit, die seiner Gesamtentwicklung (sowohl psychisch als auch physisch) dient und zudem die Ausreifung des kindlichen Gehirns begünstigt - sie erlaubt ihm schließlich ganz unbeschwert Kind zu sein und sich nicht (um sich selbst) sorgen zu müssen.

Die Notwendigkeit der Präsenz der Bezugsperson

Kein Kind kann ohne diese Bindung sein: es muss einer liebenden, reifen Person anhängen dürfen und von ihr Schritt für Schritt ins Leben begleitet werden. Entgegen aller Behauptungen, Kinder müssten möglichst schnell und frühzeitig zur Selbstständigkeit angehalten werden, braucht diese natürliche Ausreifung, die nicht erzwungen werden kann, zuallererst die Nähe und Abhängigkeit zur Bezugsperson. In den ersten 3 Lebensjahren ist dazu die persönliche Präsenz der Bindungsperson erforderlich, denn das Kleine bindet sich in dieser Zeit völlig unbewusst zuerst  über die Sinne (Schmecken, Fühlen, Riechen, Sehen, Hören von Mama), beginnt dann im zweiten Lebensjahr sie nachzuahmen und nimmt sie im nächsten Schritt ganz für sich in Anspruch. Aus dem Gefühl der Zugehörigkeit zu ihr entsteht schließlich Loyalität:  das Kind folgt und gehorcht seiner Bezugsperson und kann auf dieser Basis alles von ihr lernen, was für das menschliche Über- und Zusammenleben wichtig ist. (vgl. Gordon Neufeld  „Unsere Kinder brauchen uns“) 

Grenzen von Vereinbarkeit

Da der instinktive Bindungshunger eines Kindes so stark ausgeprägt ist, dass es in seiner kindlichen Hilflosigkeit grundsätzlich jedem anhängt, der sich ihm bietet und dabei selbst nicht auswählen kann, wer gut und „geeignet“ für ihn ist, stellt sich die Frage danach, wie viel Eltern wir praktisch sein wollen und wie viel Zeit wir in die Bindung zu ihm investieren, ganz neu. Denn offensichtlich passen das Bindungsbedürfnis der Kleinkinder und die Erfordernisse des Arbeitsmarktes nicht zusammen: kein Elternteil kann mit ungeteilter Aufmerksamkeit die notwendige Bindung zum Kind knüpfen und zugleich seiner bisher gewohnten Arbeit nachgehen. Mütter,  die über das Ausmaß ihrer Berufstätigkeit nachdenken, sind also gleichsam herausgefordert zu entscheiden, ob sie persönlich für die Bindung zu ihrem Kind Sorge tragen oder eine Betreuungsperson (Großeltern, Tagesmutter, Erzieherin) damit beauftragen - eine Entscheidung mit großer Tragweite, die schließlich die Qualität und Tiefe der eigenen Beziehung zum Kind betrifft. 

Die Rolle der Bindungsperson

Die Bindungsperson genießt alle Vorteile, die aus dieser intensiven Beziehung heraus resultieren: sie wird für das Kind zur Vertrauensperson, an die es sich bei Kummer oder Fragen wendet und Schutz und Verständnis erwartet. Sie wird zum Vorbild, dem das Kind nacheifert und es imitiert, zum Tröster, zum Wegbegleiter und schließlich zum Wertevermittler. Bindung ist Grundvoraussetzung dafür, dass Erziehung auf fruchtbaren Boden fällt und Kinder sich führen lassen und gehorchen. Eltern sollten sich darüber im Klaren sein, dass sie diese wertvolle Einflussnahme und Chance auf Prägung ihres Kindes aus der Hand geben, wenn sie es in den ersten Lebensjahren nicht selbst betreuen und stattdessen eine vielstündige, tägliche Trennung zu ihm in Kauf nehmen. Sie sollten deshalb sehr genau überlegen, ob sie ihr Kind regelmäßig in fremde Hände geben und wem sie es anvertrauen. Je mehr Bindungen ein Kind zu verschiedenen Personen zwangsläufig eingeht, umso lockerer und unsteter sind diese Beziehungen und umso weniger Halt und Orientierung werden sie ihm bieten.

Mogelpaket "Quality Time"

Die Notwendigkeit der Präsenz der Mutter in den ersten Jahren macht auch deutlich, warum sog. „Qualitätszeiten“ mit dem Kind für einen stabilen Bindungsaufbau allein nicht ausreichen: kleine Kinder benötigen ihre Bindungsperson bei sich - v.a.  dann, wenn sie traurig sind, mitteilen wollen, was sie soeben erlebt haben, Schutz suchen etc. Geplante Highlights am Wochenende können die vielen verpassten Beziehungsmomente unter der Woche nicht wettmachen. Die zwischenmenschliche Entfremdung, die geschieht, wenn Eltern und Kind oft getrennt voneinander sind, lässt Bindungslücken entstehen, die wiederum nur dadurch schließbar sind, dass Eltern sich ihren Kindern mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuwenden und viel Zeit mit ihnen verbringen. Ein Kind kann niemals selbst für seine Bindungen sorgen- das ist Aufgabe und Verantwortung der Erwachsenen.
 

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