Laie in Sachen Kita ist für mich jeder, der nicht mindestens ein paar Jahre am Stück in einer Kita mit Krippengruppe gearbeitet hat. Eben um kein Laie mehr zu sein, habe ich mich vor zehn Jahren auf den Weg in die Kita gemacht. Hier beobachte ich seitdem stets sehr aufmerksam, wie sich die Kinder entwickeln.

Die Leiterin der Kita hatte mir vorher irgendwann einmal eher beiläufig gesagt, dass sie wünschte, ihre Kitakinder könnten genauso reich mit Bindung beschenkt werden, wie meine Kinder, die in ihrem eigenen Zuhause bei ihren eigenen Eltern aufwachsen.

Als unsere Kinder dann groß waren, habe ich mir einen Ruck gegeben und es ausprobiert. Mit Herzblut habe ich einen Werkraum in der Kita konzipiert. Mein Bestreben ist es jeden Tag von neuem, die kleinen Menschenkinder möglichst bedingungslos ganz genau so anzunehmen, wie sie sind. Was der Wunsch der Leiterin war, war jetzt auch meiner. Jeder einzelne Mensch ist für mich ein Geschenk Gottes. Jeden neuen und anfangs noch schwachen Menschen gilt es zu behüten und zu beschützen, damit er unbehelligt und ohne Sorgen die ihm gegebenen Potenziale entfalten kann.

Die beiden wesentlichsten Erkenntnisse aus den Jahren der Beobachtung von Entwicklung in der Kita benenne ich hier und werde sie dann später beschreiben und begründen.

1. Potenzialentfaltung? Das geht umfassend nur im freien Spiel. Ein spielendes Kind erfreut sich seiner selbst und diese Freude ist zugleich die natürliche Grundlage und dann auch zunehmend die Richtungsgeberin seiner Entwicklung. Die Entwicklung übrigens, die schon den ganz kleinen Menschen von innen nach außen bewegt, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind (…) Die Bewegungs-Richtung von innen nach außen ist entscheidend, denn sie macht im Grunde Erziehung und Belehrung in den ersten Lebensjahren überflüssig.

2. Das Kind ist für seine ungestörte Entwicklung darauf angewiesen, von einer zuverlässigen erwachsenen Person als einmalig und unverwechselbar wahrgenommen, erkannt und auserwählt zu werden. Genau das Gegenteil passiert in Kitas. Erzieherinnen werden sogar zu dem folgenden gezwungen: Dem Einsortieren des Kindes in Schubladen und Raster. Dafür gibt es Entwicklungsbögen aller Art. Diese helfen dem kleinen Kind nicht weiter und lenken die Aufmerksamkeit und Energie der Erzieherin von ihm ab.

Statt dieses Rasterdenkens versuche ich immerzu die tiefen kindlichen Sehnsüchte zu erkennen, sie zu verstehen. Selbstverständlich gelingt mir das nur bedingt. Den Versuch allein aber würdigen die jungen Kinder. Nach einer Weile beginnen manche mir sich zu erklären. Sie sind sehr feinfühlig und spüren ein echtes Interesse intuitiv.

Für beide Beobachtungen reicht ein einziges Beispiel aus dem Werkraum:

Der Werkraum ist voll und sechs Kinder schreien gleichzeitig um Hilfe. Ich arbeite die Rufe nach dem Durchhaltevermögen der Kinder ab. Zuletzt an der Reihe ist ein fünfjähriges Mädchen. Es sägt munter – wenn auch ein bisschen schief - daher und stößt alle paar Sekunden einen Hilferuf aus. Wir beide sind inzwischen alte Vertraute und ich weiß, dass die Kleine noch nicht viel Erfahrung im Sägen hat. Sie hatte bisher nämlich Angst vor deren scharfen Zähnen. Sanft helfe ich ihr, sich gerade vor das Werkstück zu stellen. „Das kann ich alleine“, herrscht sie mich an. Ich: „Du hattest mich doch gerade um Hilfe gebeten?!“ Sie: „Du sollst gucken, wie ich Arbeiter bin!“ Darin besteht also die Hilfe nach der sie ruft- im Gucken.

Ich gebe es zu, dieses Beispiel kommt ausgesprochen unspektakulär daher, doch hat dieses kleine Mädchen mich mehr gelehrt als jede Weiterbildung: Im Vertrauen darauf, dass ich sie zu erkennen und zu schützen suche, hat sie es nach Wochen endlich geschafft, ins Spiel zu finden. Ich habe die Bedeutung dieses Erfolgs nicht sogleich erkannt und nur das Arbeitstechnische gesehen. Sie hatte schon vor längerer Zeit unserer beider Zweisamkeit einen Platz in ihrem Herzen eingeräumt und mir zurück auf den gemeinsamen Pfad geholfen. Genau in solchen Räumen von Zweisamkeit zwischen sich und einer verantwortlichen erwachsenen Person können sich Kinder entwickeln. Von innen nach außen, das ist wichtig. Das Kind dessen Bedürfnis nach Bindung befriedigt ist, das kann nach Herzenslust spielen und sich eben deshalb ungehindert weiterentwickeln.

Lese oder höre ich die Aussagen, die Laien über Kita und Krippe machen, so schüttle ich über die hohlen Floskeln nur ungläubig den Kopf. Zumeist haben diese Aussagen nichts mit der Realität zu tun. Da werden die Allerjüngsten fein säuberlich mit Hilfe flankierender Sozialgesetzgebungen aus der realen Welt draußen aussortiert. Sie werden von den natürlich Verantwortlichen, denen die sie gezeugt und geboren haben, getrennt und Ganztag für Ganztag in eine Einrichtung gebracht. Während dieser für alle Beteiligten – zumindest uneingestandener Weise - schmerzhaften Willkürmaßnahme erzählen vollmundige Politiker etwas von Bildung, Teilhabe und „Kinder brauchen Kinder“. Lächerlich! Das ist doch zuerst einmal das glatte Gegenteil von Teilhabe. Das ist Aussortieren, Ausschluss nach biometrischen Maßgaben und dann anschließend Zusammenpferchen. Ich wünschte, die Rhetorik rund um das Thema Ganztagsbetreuung von Säuglingen und Kleinkindern in Institutionen würde sich von gut klingenden Hochglanzfloskeln entfernen und zu einfachen und ungeschönten Worten zurückfinden. Unsere Sprache ist doch so reich an klaren bildreichen und zugleich unmissverständlichen Worten!

Die beiden Krippenerzieherinnen in meiner Kita versorgen neun Babys und Kleinstkinder zwischen sechs und sechsundzwanzig Monaten. Sie haben beide keine volle Stelle aber mehr als eine Halbtagsstelle. Es sind aus meiner Sicht die besten, weil warmherzigsten Krippenerzieherinnen der Welt. Die beiden machen bei ihrer Arbeit mit den Kindern und ihren Eltern alles richtig und sehr, sehr liebevoll, gewissenhaft und einfühlsam.

Die besten Krippenerzieherinnen der Welt schaffen es nicht oder nur selten, den ihnen anvertrauten Babys und Kleinstkindern den Entwicklungsspielraum zu geben oder zu öffnen, den man gemeinhin als „Kindheit“ bezeichnet. Sogar ihre außergewöhnlich hohe Qualifikation ist gegen das dem System Krippe innewohnende Prinzip der verschachtelten Trennung machtlos.

Autorin: Stefanie Selhorst

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