Ich schweige nicht länger:

Erfahrungsbericht von Serge Sulz, Psychotherapeut

Ich habe viele Jahre lang geschwiegen und entgegen meiner Überzeugung darauf gewartet, dass die Forschung zu dieser Frage verlässliche Angaben macht. Jetzt ist es so weit: Die Bindungsforschung, aber auch die Erforschung der emotionalen und kognitiven Entwicklung bestätigen, dass ein Kind unter 24 Monaten vernachlässigt wird, wenn es zu zehnt oder fünfzehnt 8 bis 10 Stunden am Tag mit einer oder auch mit zwei Erzieherinnen verbringen muss.

Ich weiß, dass Kolleginnen und Kollegen, die ihr Kind in eine KITA geben, sich gegen diese Aussage aufbäumen müssen. Sie stehen unter dem Druck der öffentlichen Meinung und ihrer beruflichen und familiären Situation und sie können sich nicht zerreißen. Und jetzt kommt auch noch einer wie ich daher und lässt die ohnehin schon vorhandenen Schuldgefühle größer werden. Gegen den muss man sich wehren, dann geht es wieder.

Wenn Sie nicht in einer glücklichen Situation sind, in der Sie Wahlfreiheit haben, landet der schwarze Peter bei ihnen und das können Sie nicht auf sich sitzen lassen. Das sollten Sie auch nicht. Ich bin überzeugt, dass Sie es sich nicht leicht gemacht haben und den für alle Beteiligten besten Kompromiss gewählt haben. Mit Kindern teilt man nicht nur Freud, sondern auch Leid. Also steckt in diesen Ausführungen keine Schuldzuweisung an die Eltern. Diese können nicht anders.

Nein, die ganze Verantwortung geht an die Adresse der Politik. Sie fädelte den KITA-Boom ein. Und die öffentlichen Medien sprangen flink auf diesen Zug auf. Prompt wurden Stimmen zum Schweigen gebracht, die vor den Folgen dieser Vernachlässigung warnen. Oder die fordern, dass sowohl die Mutter als auch der Vater je ein Jahr Erziehungszeit finanziert bekommen.

Und es bringt nichts, wenn 80 % der KITA-Kinder keine sichtbaren Schäden zeigen. Denn die Entwicklungsdefizite führen nicht direkt zu psychischen Erkrankungen, sondern zeigen sich sehr verzögert – indem das eine Kind sich prächtig entwickelt und auch im Erwachsenenleben seine Begabungen und Chancen nutzen kann, während ein anderes eine vergleichsweise ärmere Existenz und Lebensqualität (inkl. der langfristigen Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen) aufweist. Auch die einseitige Betonung der kognitiven Entwicklung und der Schulnoten lässt zu leicht vergessen, dass die emotionale und soziale Entwicklung mindestens so wichtig ist.

Auf der anderen Seite wissen wir PsychotherapeutInnen um das viel häufiger Wehe der Entwicklungsstörungen, die aus einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung bzw. Vater-Kind-Beziehung erwachsen können, auch wenn das Kind nie eine KITA gesehen hat: Überbehütung und Verstrickung sowie katastrophale Mann-Frau-Beziehung der Eltern. Mit diesen hausgemachten Problemen sind wir in unserem Beruf vollauf beschäftigt. Trotzdem meine ich, dürfen wir nicht schweigen, wenn wir sehen, was in unserer Gesellschaft und in den Familien passiert.

Noch eine Anmerkung: Eine Reanalyse der in der Presse zitierten wissenschaftlichen Untersuchungen ergab, dass diese falsch interpretiert wurden – in dem Sinne, das Erwünschtes herausgegriffen und Unerwünschtes nicht gewürdigt wurde. Es gibt so gut wie keinen wissenschaftlichen Beweis für die Unschädlichkeit von KITAs. KITAs wirken auf das kindliche Gehirn massiver ein als ein Psychopharmakon (ein solches würde man bei fehlendem wissenschaftlichem Nachweis der Unschädlichkeit niemals zulassen)- KITAs schon.

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